Du bist so alt, wie du dich fühlst. Der Selbstversuch von carpe diem-Chefredakteurin Nicole Kolisch

Du bist so alt, wie du dich fühlst. Der Selbstversuch von carpe diem-Chefredakteurin Nicole Kolisch

Soul, Ali Teshnizi

Du bist so alt, wie du dich fühlst.

Ehrlich? Oje.

In den Ohren von carpe diem-Chefredakteurin Nicole Kolisch klingt dieser Satz wie eine gefährliche Drohung. An manchen Tagen fühlt sie sich nämlich wie 102. Ein Selbstversuch mit hochdosiertem Spermidin soll das in Ordnung bringen – erschienen im Carpe Diem Sondermagazin im April 2023.

 

Compliance kann ich einfach nicht. Sorry. Ich weiß, für eine Gesundheitsjournalistin ist das peinlich. Ich sollte es besser wissen. Compliance, das ist laut Definition „die Bereitschaft eines Patienten zur aktiven Mitwirkung an therapeutischen Maßnahmen“ – kurz: etwas, was mir komplett fehlt. Wenn so ein Gott in Weiß zu mir sagt: „Frau Kolisch, tun Sie unbedingt dies oder jenes“, dann mach ich – naja, nicht unbedingt das Gegenteil, aber das Empfohlene halt auch nicht.

Wie so oft fängt’s auch diesmal im Kleinen an: täglich eine Dosis Spermidin nehmen. Dreißig Tage lang. Kann ich das durchziehen?

Wenn du jetzt denkst: „Geh bitte, das ist doch lächerlich!“, hast du recht. Das ist es tatsächlich. Liegt halt daran, dass ich ein Problem mit Autoritäten habe. Immer schon. „Insofern brauch ich keine Spermidin-Verjüngungskur“, argumentiere ich, „ich stecke ohnehin noch in der Pubertät.“

Blöd ist nur, dass mein Körper das nicht weiß. Der ist nämlich nicht vierzehn, sondern fünfzig. Er zwickt und zwackt immer wieder mal, um mich daran zu erinnern. Und das mit dem Erinnern ist übrigens gleich das nächste Problem. Was wollte ich gerade schreiben?

Dann ist da noch die Sache mit dem Energiehaushalt: Wäsche, Einkauf, Geschirr … Also „Haushalt“ hätte ich tatsächlich genug. Bloß die Energie dafür nicht. Manchmal bin ich so müde, dass ich in der Früh beim Anziehen wieder einschlafe. Kein Schmäh. Zwischen linkem und rechtem Strumpfhosenbein ist ein schwarzes Energieloch … Da plumpse ich regelmäßig in den Sekundenschlaf.

„Gut“, denke ich, „alte Körperzellen, alte Gedächtniszellen, null Ladung in der Zellenbatterie. Spermidin, bitte kümmer dich drum! Und wenn ich dafür mal dreißig Tage einer Empfehlung folgen soll – na gut, dann mach ich das halt!“ (Hoffentlich vergess ich mittendrin nicht drauf.)

 

Tag1

Herbert hat gesagt, ich soll’s zum Frühstück nehmen. Er hat beruflich mit Spermidin zu tun, er muss es wissen. Was er nicht weiß: Ich frühstücke nicht. Aber daran soll es nicht scheitern. Ich klaue meiner Tochter die Apfelspalten aus der Jausenbox (die lässt sie eh immer über). Voilà, Frühstück! Dazu gibt’s ein Stamperl Spermidin. Schmeckt ein bisschen nach Orange.

 

Tag 2

Heute führe ich alles, was gestern passiert ist, auf die Wirkkraft von Spermidin zurück. Zum Beispiel war ich auf einer Dinnerparty und bin nicht (wie sonst) vor Mitternacht am Sofa des Gastgebers eingenickt. Wir haben noch bis zwei Uhr früh angeregt geplauscht! Ist das schon die Wirkung – oder waren’s einfach die guten Gesprächsthemen? Meine Verdauung ist auch besser. Ist das Spermidin – oder war’s der Krautsalat? Kann ich nach zwei Tagen tatsächlich schon etwas spüren? Ich ruf lieber mal Herbert an.

„Naja“, sagt er, „in puncto Verdauung kannst du durchaus jetzt schon was bemerken – denn die Rezeptoren für Spermidin liegen im Darm. Und bei jungen Menschen, deren Körper selbst noch viel Spermidin produziert, passiert dies auch genau dort. Wenn du also noch nie zuvor Spermidin supplementiert hast und jetzt damit anfängst, ist es an sich nicht verwunderlich, wenn es hier zuerst aufschlägt.“

„Okay“, sage ich, „und was ist mit all den anderen Wirkungen, die ich schon spüre?“ – „Unwahrscheinlich, so schnell geht’s nicht. Der Körper muss die Spermidindepots in den Zellen erst auffüllen. Das dauert schon mal ein paar Wochen.“

 

Tag 4

Kollegin K. sieht das anders. Sie nimmt Spermidin und konnte bereits nach zwei Tagen besser schlafen. „Blödsinn“, sage ich und erzähl ihr von den Zelldepots. „Ich weiß! Aber ich sag dir, ich schlafe trotzdem wie ein Baby“, beharrt K. Ich bin knapp daran, ihr den Placeboeffekt zu erklären, lass es dann aber. Ich hab Dringenderes zu tun (wir erinnern uns: die Verdauung …).

 

Tag 7

Auf den Flurfunk ist Verlass. Das ganze Haus scheint zu wissen, dass ich Spermidin nehme. Ständig steckt jemand den Kopf zur Bürotür herein und fragt: „Spürst schon was?“ (Meistens mit dem Nachsatz: „Wenn das bei dir funktioniert, nehm ich’s auch!“) – „Nein“, sage ich, „ich bin immer noch fünfzig.“

Ich mach mir aber eine Gedankennotiz: Es gibt ein starkes Bedürfnis, der Zeit ihren Zahn zu ziehen. Das viel­zitierte Altern in Würde ist in unserer Gesellschaft maximal Plan B. Plan A wäre: gar nicht altern. Das fällt mir erst jetzt so richtig auf.

 

Tag12

Eine liebe Freundin feiert Geburtstag. Auch den Fünfziger. „Ist nicht so schlimm“, tröste ich sie, „hab’s hinter mir. Tut nicht weh.“ – „Sowieso nicht“, sagt sie, „fünfzig ist mein Sehnsuchtsalter. Darauf habe ich mich schon sehr gefreut.“

Merke: Plan B ist für sie Plan A. Aber sie war immer schon Revoluzzerin – und entsprechend rauschend ist ihr Fest: Auf der Tanzfläche tummeln sich Glitzerfeen und Einhörner bis in die frühen Morgenstunden. Kaum jemand unter fünfzig (zumindest nicht laut Geburtsurkunde) – aber in dieser Nacht alle fünfundzwanzig.

 

Tag 13

Kein Kater. – Danke, Spermidin! Ich kann es ja nicht beweisen (wie auch …), aber ich kann mir vorstellen, dass die neu erstarkte Müllabfuhr in den Zellen hier bereits ein wenig beigetragen hat …

Autophagieprofi Frank Madeo hat im Interview gesagt, dass Spermidin und Fasten sich gegenseitig verstärken können. Wenn schon, denn schon, denke ich mir, ab heute wird intervallgefastet. (Damit ich ja keinen Mangel erleide, fülle ich vorsorglich noch rasch die Schokoladendepots in den Zellen auf.)

 

Tag 21

Okay, einmal war ich bei der Mama eingeladen. Da wär’s blöd gewesen, nichts zu essen. Und einmal war da eine Zimtschnecke. Aber sonst: Das Intervallfasten (ab 16 Uhr) klappt super. Geht viel einfacher als gedacht. Na sicher hab ich Hunger! Aber es ist ein freundlicher Hunger. Einer, mit dem ich mich arrangieren kann und der mich nicht zum hangry monster werden lässt. Und ich schlafe tatsächlich besser.

Ob das jetzt am Spermidin liegt, am Fasten, an der Kombination? Ist mir ehrlich gesagt wurscht. Mir geht’s gut.

 

Tag 22

Heute geht’s mir nicht gut. Denn ich habe das Lied „Jede Zelle meines Körpers ist glücklich“ gnadenlos als Ohrwurm. Das dürfte eine Nebenwirkung sein, die am Beipackzettel nicht vermerkt ist. Es gibt nichts, wirklich gar nichts, was dagegen ankommt. Aber ich mache die Boxatmung. Die verschafft zumindest Linderung.

 

Tag 23

Das orangefarbene Stamperl am Morgen ist zu einem lieben Frühstücksritual geworden. Und das ist nicht das einzig Neue an meinem miracle morning: Ich stehe täglich um 5.45 Uhr auf und gehe – laufen! „Das ist nicht dein Safterl. Das ist dein Kind, das diese Woche auf Ferienlager ist“, meint Freundin M., „natürlich hast du so kinderschultaschen-, jausenbrot- und hausübungslos mehr Energie übrig als sonst!“ – „Nö“, sage ich, „das Kind hatte schon öfter Ferien, und ich bin trotzdem nicht jedes Mal zur Morgenmarathoni mutiert. Sonst hab ich einfach geschlafen.“

M. zuckt mit den Schultern. Sie ist Skeptikerin. „Und überhaupt“, befindet sie, „sind fünf Kilometer kein Marathon!“ Haters gonna hate.

     

    Tag 24

    M. hat recht und gleichzeitig unrecht. Natürlich ist der Alltag keine cleane Versuchsanordnung, kein Labortest, bei dem intervenierende Variablen von vornherein ausgeschlossen sind. Ha! Im Gegenteil: Mein Leben ist eine andauernde intervenierende Variable.

      Wie soll ich da die Henne-Ei­Frage klären? Laufe ich, weil ich (dank Spermidin) mehr Energie habe? Oder hab ich mehr Energie, weil ich laufe? Schlafe ich besser, weil ich laufe? Oder laufe ich leichter, weil ich ausgeschlafen bin? Und wie spielt mein (Abgesehen-von-Zimtschnecken-)Intervallfasten da mit?

      Darüber muss ich noch eine Runde nachdenken. Am besten in Sneakers.

       

      Tag 30

      Meine Dreißig-Tage-Packung Spermidin und mein kleines Experiment neigen sich dem Ende zu. Letzte Nacht hab ich gar nicht geschlafen (mein Hund ist krank, darüber trösten auch die hochwertigsten Supplemente nicht hinweg). Und so ein After-Work-Käsekrainer … Das hätte echt jedem passieren können!

      Abgesehen von den kleinen Ausreißern bleibt eine durchaus positive Bilanz. Es war ein guter Monat – denn er hat mir gezeigt: Meine Zellen sind nicht wurscht! Wenn ich ihnen ein wenig beim Ausmisten helfe, helfen sie mir ein wenig beim Besser-Leben. Intervallfasten, Handy abdrehen (ähem), halbwegs sinnvolle Schlafenszeiten (Daumen mal Pi halt), Spermidin oder zumindest öfter ausatmen – all das macht den Zellen das Leben leichter.

      Und geht’s den Zellen gut, geht’s der Nicole gut. It’s not rocket science.

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